Redeangst überwinden

Wenn die Lampen angehen …

eine kleine Ballettänzerin schaut durch den roten Theatervorhang auf das Publikum - sie scheint großes Lampenfieber zu haben

Schwitzige Hände, Herzrasen, Frosch im Hals und ein mulmiges Gefühl im Bauch. Oder anders gesagt: Lampenfieber. Was für ein harmloses Wort für einen schrecklichen Zustand! Warum habe ich dieses Fieber? Weil ein paar Lampen an sind? Nein, Lampen sind mir egal.

Der Grund ist, dass mir gleich (zu viele) Menschen zuschauen werden.

Ich bin nervös, habe Angst, Blödsinn zu erzählen, einen Fehler zu machen, einen Hänger zu haben, nicht mehr weiter zu wissen, mich zu blamieren. Also im weitesten Sinne zu versagen. Und schon der Gedanke an eventuelles Versagen ruft ein äußerst unangenehmes Gefühl hervor: Scham.

Lampenfieber stellt sich nie ein, wenn wir alleine sind. Im Wald auf einem einsamen Spaziergang hat niemand mit Nervosität zu tun. Aber je bedeutender eine bevorstehende Begegnung mit einem oder mehreren Menschen ist, sei es im beruflichen Kontext oder auch bei einem privaten Rendezvous, desto größer ist die Furcht zu versagen. „Ich muss jetzt besonders gut sein“ ist einer der besten Ausstrahlungskiller, die es gibt.

Nervosität ist menschlich …

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu glauben, dass nur Amateure mit Redeangst zu kämpfen haben. Offen gestanden habe ich noch immer Lampenfieber, obwohl ich seit mehr als 30 Jahren vor der Kamera und auf der Bühne stehe. Ich habe aber festgestellt, dass es nicht nur für mich entlastend ist, in meinen Vorträgen offen darüber zu sprechen, sondern für viele andere Menschen auch. Motto: „Wenn der auch mit dieser Angst zu tun hat, kann es ja nicht so schlimm sein, Angst zu haben.“

… und Lampenfieber kennen auch Profis nur zu gut

Und ich bin längst nicht der einzige Profi, der Lampenfieber kennt. Joaquín Phoenix, Filmschauspieler und Regisseur, Gewinner des Golden Globes und zweimal für den Oscar nominiert, sagte in einem Interview: „Irgendwie ist es wahnsinnig lächerlich, dass ich das schon 30 Jahre lang mache und ich mich jedes Mal fühle, als wäre es das verfluchte erste Mal.“ Das spricht mir direkt aus dem Herzen.

Ruhm hilft nicht gegen Auftrittsangst

Eine andere berühmte Kollegin von mir, mit der ich die große Ehre hatte, einen Kinofilm zu drehen, Grande Dame des deutschen Fernsehens, dekoriert mit allen (!) Preisen, die es im deutschsprachigen Raum gibt, hat mir einmal gestanden: „Jedes Mal, wenn ich zum Drehen fahre, taucht ein Satz in mir auf: „ Heute kommt raus, dass ich eigentlich nichts kann.“ Ich weiß noch genau, wie mich das getroffen hat. Sie! Mit ihrem Erfolg! Eine Frau, die alles erreicht hat! Diese Liste berühmter Kollegen könnte ich beliebig fortsetzen. Sollten Sie also mit dem Phänomen Lampenfieber zu kämpfen haben und nicht nur aus Neugierde diese Seite lesen, seien Sie gewiss: Sie stehen damit nicht allein da.

Beispiel: Stress blockiert unsere Fähigkeit zu kommunizieren

Ich hielt den Abschlussvortrag auf der Jahresauftaktveranstaltung eines großen deutschen Automobilzulieferers. Vor mir sprach eine Dame aus dem Marketing. Schon als sie zur Bühne ging, war ihre körperliche Anspannung spürbar. Während ihres kurzen Beitrags schaute sie so gut wie nie ins Publikum, sondern starr auf ihr Manuskript. Und dann passierte es: Sie verhedderte sich bei dem Wort „customer construction contract“, setzte wieder und wieder an und brachte das Ungetüm einfach nicht unfallfrei über die Lippen. Sie wurde knallrot, stotterte immer schlimmer, brach ihr Statement ab und schlich wie ein geprügelter Hund zu ihrem Platz. Während der anschließenden After Show Party war sie am Boden zerstört und konnte mir kaum in die Augen schauen. Sie hatte mein volles Mitgefühl, so wie jeder, der sich vermeintlich blamiert. Aber was genau war eigentlich passiert? Sie hatte ein kompliziertes Wort nicht aussprechen können, mehr nicht.

Neue Strategien für alte Ängste

Wo kommt diese Versagensangst her, die so viel Beklemmung und Scham produziert? Die Sozialforscherin Brené Brown brachte es in ihrem lesenswerten Buch „Verletzlichkeit macht stark“ auf den Punkt. Sie schreibt:

„Scham ist das äußerst schmerzliche Gefühl und die traumatische Erfahrung zu glauben, aufgrund unserer Mängel und Fehler seien wir nicht liebenswert und hätten es nicht verdient, dazu zu gehören.“

eine Herde Schafe schaut ängstlich. Ein Schaf hat große Sorge, ausgegrenzt zu werden.Ich ertrage den Gedanken nicht, mich blamiert zu haben

So ist es, wir fühlen uns ausgegrenzt, egal, wieviel Mitgefühl wir erfahren. Für unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler in der Steinzeit, war die Zugehörigkeit zum Dorf überlebenswichtig. Wer von seiner Gemeinschaft ausgeschlossen wurde, war in akuter Lebensgefahr. Ich behaupte, diese Urangst sitzt immer noch in unseren Zellen: Wenn wir uns blamieren, werden wir ausgeschlossen und dann sind wir so gut wie tot.

Eine Erinnerung an alte Reflexe

Aber ist das heute noch realistisch? Sicher nicht. Im schlimmsten Fall kassieren wir ein paar kritische Blicke und eine negative Bemerkung am Ende. Aber wir fühlen uns, als würden wir in die Verbannung geschickt und wären dem Tod ausgeliefert.

Die Erfahrung unserer Vorfahren ist also der eigentliche Grund für Schwitzehändchen und Herzrasen. Wie, bitte, soll ich mich angesichts von Gefahr entspannen und so tun, als ob ich an einer Blume rieche? Die schlechte Nachricht lautet: Es nützt nichts, das Programm der Vorfahren zu ignorieren oder auszublenden. Es bleibt trotzdem wirksam und handlungsmächtig. Die gute Nachricht lautet:

Sobald mir dieses automatische Programm bewusst wird, kann ich es stoppen und eine neue Erfahrung machen.

Sobald ich erkenne, dass ich mir die Angst „nur geliehen“ habe, kann ich mir Strategien für den Umgang damit überlegen. Weiter unten habe ich einige Möglichkeiten zusammengestellt – in über 30 Jahren am eigenen Leib erprobt.

Lampenfieber kann wertvoll sein

Viele wünschen sich, das Lampenfieber „ausknipsen“ zu können. Dabei ist die Energie, die im Lampenfieber enthalten ist, sehr wertvoll. Sie kann uns im Verlauf unseres „Auftritts“, bei Vorträgen oder Präsentationen, zugute kommen, weil sie uns zu einer Art gesteigerter Wachheit verhilft. An sich ist Lampenfieber also nichts Schlechtes, weshalb es auch nicht ratsam ist, sich dagegen zu wehren.

Der Trick ist, die Energie der Angst in etwas anderes umzuwandeln.

Wichtig ist, sich immer wieder bewusst zu machen, dass man selbst das eigene Lampenfieber viel stärker spürt als das Gegenüber, tatsächlich ungefähr 10-mal so stark. Viele meiner Seminarteilnehmer, die sich im Video bei einem Auftritt sehen, registrieren verblüfft, dass man ihre Angst ja gar nicht sieht. Und das stimmt. Von außen ist die Angst selbst nicht sichtbar, wohl aber die eigenen Reaktionen auf die Angst: Negative Gedanken, starre Mimik, hektische Bewegungen, flaches Atmen …

Fast-Food-Atem kann uns nicht schützen

Bleiben wir doch gleich mal beim Atem. Auch das ist eine von unseren Vorfahren geliehene Reaktion: Wenn wir unangenehme Gefühle verspüren (hier Angst oder sogar Panik), atmen wir meist nur ganz flach, um nicht in Kontakt damit zu kommen. Ich nenne es den „Fast-Food-Atem“: Ich atme gerade noch so viel, dass ich nicht in Ohnmacht falle. Damit aber stecke ich in dem Gefühl fest und es bewegt sich nichts weiter. Sobald ich mich dazu überwinden kann, tiefer und länger zu atmen, löst sich ein Teil dieser Blockade und die Energie kann wieder fließen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Lampenfieber in vielen Fällen nach wenigen Minuten nachlässt: Es kommt was in Bewegung – und das können Sie beschleunigen. Durch die längeren Atemzüge bringen Sie die Energie in Fluß.

E-Motion ist Energie in Bewegung.

Der Atem ist das zentrale Element, der diese Bewegung steuert und möglich macht. Halten wir den an oder atmen wir flacher, bleiben wir länger in dem schlechten Gefühl, das wir ja gerade loswerden wollten. Wer das praktisch umsetzen kann, hat seine Angst zur Hälfte schon besiegt.

ein Erste Hilfe Kasten auf einem Rettungsring - praktische Hilfe gegen Stress

Der Erste-Hilfe-Kasten gegen Lampen­fieber

Probieren Sie die Mittel für sich aus und finden Sie heraus, was für Sie persönlich am besten funktioniert – nicht alles hilft bei jedem, das ist ganz normal.

1) Langsames Ausatmen bringt mich in Bewegung

In der Vorbereitung: Stehen Sie fest auf beiden Beinen, zählen Sie bis vier, atmen Sie dabei langsam ein und führen Sie währenddessen seitlich Ihre Arme wie einen Fächer auf Schulterhöhe. Danach atmen Sie langsam mit einem „Sch…“ aus, während Sie wieder bis vier zählen und die Arme langsam wieder senken. Den von selbst einströmenden Nachatmer abwarten (!) und die Übung 3x wiederholen.

2) Zappelphilipp verhindert, dass ich festhalten kann

Schütteln Sie alle Gliedmaßen gut aus, Arme, Beine, Kopf; hüpfen und springen Sie so viel Sie können. Zucken und ruckeln Sie, mindestens 3 Minuten (!), bis Sie aus der Puste geraten. Ihre Energie wird danach eine andere sein – garantiert.

3) Spazieren gehen macht den Kopf frei

Vor wichtigen Auftritten hilft Bewegung, sie lässt uns an etwas anderes denken. Schon 10 Minuten ohne ins Manuskript zu schauen (!) können Wunder wirken.

4) Rescue-Tropfen von Dr. Bach

Das sind rein pflanzliche Essenzen, die nicht wie herkömmliche Beruhigungsmittel schläfrig oder gar lethargisch machen, sondern sehr sanft, aber dafür nachhaltig den Energielevel regulieren. Vor dem Auftritt alle paar Minuten 4 Tropfen per Pipette auf die Zunge träufeln und zur Vorsicht ein paar Tropfen ins stille Wasser geben, das Sie auf dem Rednerpult stehen haben – Rescue-Tropfen sind transparent und im Glas nicht sichtbar. Sie bekommen sie in jeder Apotheke.

5) Die ersten 2 Sätze auswendig lernen

Schreiben Sie den Anfang eines Vortrages ausformuliert auf und lernen ihn auswendig. Aber NUR die ersten beiden Sätze! Auch das hilft Ihnen, die Energie in Fluss und Sie in die beschriebene Bewegung zu bringen.

6) Affirmationen können sehr hilfreich sein

Also Sätze, die einen möglichen positiven Zustand beschreiben. Wichtig ist nur, dass der Satz in der Gegenwart und positiv formuliert sein muss (also ohne die Worte „kein“, „nicht/nichts“ und „nie“). Ihre Affirmation sollte außerdem nicht zu weit vom aktuellen Erleben entfernt sein, da Ihr Glaubenssystem sie sonst nicht akzeptieren wird.

Anregungen für mögliche Affirmationen:

  • Ich freue mich auf die Begegnung mit meinem Publikum.
  • Ich stelle mein Wissen gerne zur Verfügung.
  • Ich genieße es, immer leichter und entspannter zu werden.
  • Ich stelle mich mit allem was ich habe zur Verfügung.
  • Ich bin dankbar für die Chance, mich voll einbringen zu dürfen.
  • Ich genieße es, mich zu zeigen.

Selbstverständlich sind noch viele weitere Formulierungen denkbar. Seien Sie kreativ mit sich! Wenn Sie eine Formulierung gefunden haben, die Sie ein bisschen erleichtert und ein bisschen froher macht, Sie also innerlich ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken können, dann stimmt der Satz. Wiederholen Sie ihn mindestens dreimal leise für sich. Wenn Sie alleine sind, können Sie ihn auch laut sagen. Auch wenn der Rest des Körpers in Anspannung ist, verfehlt der richtige Satz seine Wirkung nicht. Sie können sich auch Ihre Affirmation auf die Sprachmemo-Funktion Ihres Smartphones sprechen und dann immer wieder abhören.

7) Musik hören

Ihre Lieblingsmusik zu hören (über Kopfhörer), kann Sie sehr schnell entspannen und unterstützen, eventuell auch in Kombination mit Spazierengehen. Und die ganz Mutigen können auch selber singen. – Wenn ich mit Inbrust singe, KANN ich gar nicht festhalten.

8) „Gedanken einer Kerze“

Ein Gedicht von Adalbert Ludwig Balling ist ein idealer „Katalysator“ für gute Energie. Hier finden Sie es als PDF. Drucken Sie es aus und lesen Sie es sich langsam und mit Pausen (!) laut vor. Oder Sie laden sich hier ein von mir gesprochenes MP3 des Gedichts herunter und hören es sich konzentriert ein paar Mal an.

9) Benutzen Sie Karteikarten statt Zettel

Im Vortrag wird das Zittern der Arme meistens umso sichtbarer, je dünner das Manuskript ist, das Sie in Händen halten. Das können Sie leicht vermeiden, indem Sie Ihre Spickzettel verstärken (kein Moderator im Fernsehen würde mit Zetteln in der Hand auftreten, genau dafür wurden die Moderationskarten erfunden.)

10) Suchen Sie sich Anker im Publikum

Entscheiden Sie sich im Vortrag für zwei freundlich dreinblickende Menschen als Anker halb links bzw. halb rechts im Publikum.

Sie können Ihnen Halt in unsicherer Situation sein.

Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt, der in einem Interview einmal offen über sein Lampenfieber sprach – bei zwei bis drei Wahlkampfreden am Tag war das ziemlich hinderlich für ihn – ,wendete diese Strategie erfolgreich an. Am Anfang seiner Rede sprach er ausschließlich zu den beiden „Sympathieträgern“. Sobald er sich sicherer fühlte, erweiterte er seine Blicke, um zum Schluss das gesamte Publikum einzubeziehen. Dadurch blieb die Rede persönlich und jeder fühlte sich direkt angesprochen. Und einen freundlich lächelnden Menschen selber anzulächeln, vielleicht sogar ein wenig zu flirten, fällt ja viel leichter!

11) Benutzen Sie einen Talisman

Erbitten Sie sich den von einem Menschen, zu dem Sie eine enge emotionale Verbindung haben. Dieser Gegenstand sollte in Ihre Hosentasche passen und sich angenehm anfühlen. Sobald Ihre Angst steigt, können Sie (in der Hosentasche) Kontakt zu ihm aufnehmen, ihn anfassen.

Je stärker Ihre Beziehung zu der Person ist, von der Sie den Talisman haben, desto besser funktioniert es.

Ich habe bei Auftritten zeitweise regelmäßig eine kleine Legofigur meines Sohnes dabei gehabt.

12) Benutzen Sie die „vierte Wand“

Ein Tipp, der in die gleiche Richtung geht: Projizieren Sie vor dem Auftritt in Gedanken das Bild eines geliebten Menschen am anderen Ende des Raumes an die Rückwand. Während der Präsentation können Sie über die Köpfe der Zuschauer hinweg an diese vierte Wand schauen und so innerlich Kontakt zu diesem Menschen aufnehmen. Manchmal passiert es, dass Sie dabei unwillkürlich lächeln müssen – der „Beweis“, dass es funktioniert.

13) Wenn nichts mehr geht: Ziehen Sie die Reißleine

ein starkes Tau im Hafen - als Symbol für die ReißleineWenn Sie während Ihres Auftrittes immer mehr verkrampfen und sich Ihre Angst eher verstärkt, hilft nur noch ein radikaler Schritt: Gestehen Sie sich und Ihrem Gegenüber ein, dass Sie Lampenfieber haben. Reden Sie offen darüber und bitten Sie um Verständnis. Dieser Schritt erfordert Mut, keine Frage. Und doch habe ich noch nie erlebt, dass demjenigen, der ihn wagt, nicht auf jeden Fall Achtung und Respekt entgegen gebracht wurde. Denn viele ihrer Zuhörer werden anerkennen, dass es souverän ist, in solch einer Situation offen zu seinen Gefühlen zu stehen und viele andere werden sich insgeheim eingestehen, dass sie in einer solchen Situation ebenfalls sehr nervös wären. Mit dieser Reißleinen-Taktik können Sie also gehörig punkten. Und noch etwas anderes passiert:

Da Sie mit dieser Äußerung Ihr inneres Erleben und Ihren Ausdruck in Einklang gebracht haben (sich kongruenter gemacht haben), entspannt sich Ihr System automatisch.

Es gibt nichts mehr zu vertuschen und alle Kraft und Aufmerksamkeit kann in den Ausdruck fließen. Wer die Kraft aufbringt, sich hier zu überwinden, kann Wunder erleben.