Wenn Sie mit keinem dieser Sätze auch nur irgendetwas anfangen können, wenn sich kein: „Das kommt mir bekannt vor“ bei Ihnen regt, dann können Sie dieses Thema getrost überspringen – dann ist das nicht Ihre Baustelle.
Sollten Sie sich in einem Teil dieser Sätze wiederfinden, dann ist Ihnen wahrscheinlich bewusst, dass wir auf Dauer niemandem erlauben würden, so abwertend, verächtlich und zynisch über uns zu reden. Wir würden uns diesen Menschen vom Leibe halten, weil wir spüren, der tut uns nicht gut.
Aber der schlimmste Nörgler kommt nicht von außen, er sitzt in uns drin. Und den können wir uns nicht so leicht vom Leib halten. Ich nenne ihn den inneren Kritiker.
Er ist absolut in seinem Urteil, er erkennt keine mildernden Umstände an, er ist grob, unfair, gemein, verletzend und sehr raffiniert: Er kennt alle unsere Schwachstellen und ist sofort zur Stelle, wenn wir in Schwierigkeiten sind. Er spielt gern „über Bande“, d. h. er sucht sich ungefragt Verbündete für seine Kampagne in Sachen Mutlos machen. „Guck mal, der denkt bestimmt auch …“ Von ihm gibt’s keinen Urlaub und kein Entrinnen: Er ist immer da. Er macht uns in Konfliktsituationen sprachlos und schnürt uns die Kehle zu.
Wenn er aktiv ist, fühle ich mich klein, unbedeutend, schwach und hilflos. Und ich habe Angst davor, ertappt zu werden – auch, wenn ich nicht immer genau sagen kann, wobei. Zu guter Letzt fühle ich mich auch noch schuldig und schäme mich; und auch hier kann ich nicht genau sagen, warum.
Ich erinnere mich noch genau, wann ich diesem Phänomen das erste Mal bewusst begegnet bin: Ich drehte meinen ersten Kinofilm als Schauspieler und war entsprechend nervös. Einige Szenen hatte ich mit einer sehr berühmten, erfahrenen Schauspielerin, mit der ich mich sehr gut verstand. Beim Mittagessen vertraute ich ihr an, wie sehr ich mich beim Drehen vor einem möglichen Versagen fürchtete: Ein falsches Wort, ein Haspler im Text – und schon sind ca. 2 Meter Film (wir drehten auf 35 mm) vernichtet. Das machte mir großen Druck. Sie wollte mich trösten und bemerkte nur: „Mach Dir nichts draus, Lutz, das geht mir genauso.“ Ich habe sie total verblüfft angeschaut und mir rutschte raus: „Das ist sehr lieb von dir, dass du mich trösten willst, aber ich glaube dir kein Wort.“
Vielleicht nur, weil ich sie provoziert hatte, sprach sie ganz offen zu mir: „Jedes Mal, wenn ich morgens zum Drehen fahre, stelle ich mich vor den Spiegel und dann taucht ein Satz in meinem Inneren auf: ‚Heute kommt es raus, dass du eigentlich nichts kannst.‘ Ich war sprachlos: Diese von mir so bewunderte Kollegin, die alle Preise im deutschen Fernsehen und Film abgeräumt hat, deren Namen jeder kennt, die auf der Straße beim Drehen jederzeit für einen Fanauflauf sorgen kann, dieses Vorbild an Erfolg und Können hat solche Versagensängste?! Da wurde mir klar: Der innere Kritiker lässt sich von objektiven Kriterien nicht umstimmen, er ist immun gegen unsere Erfolge und Auszeichnungen, er lebt in seiner eigenen Welt und rückt nicht von seiner „Wahrheit“ ab – niemals.
Was können wir dagegen tun? Bevor wir darauf eingehen, müssen wir uns erst einmal klar machen, was da passiert:
Der innere Kritiker hatte schon unsere Eltern fest im Griff – und unsere Großeltern. Er wird von Generation zu Generation vererbt; nicht durch eine bewusste Entscheidung, sondern durch vorgelebte Verhaltensweisen. Die „Geburt“ des inneren Kritikers in uns erfolgt in dem Lebensalter, in dem das Kind massiv mit den Normen und Werten der Gesellschaft konfrontiert wird: „Das tut man nicht“, „was sollen denn die Leute denken“, „schämst du dich denn gar nicht …“
Jedes Kind kommt in diesem Alter unweigerlich in Konflikt mit diesen ungeschriebenen Gesetzen, und die Zurechtweisung durch die Eltern und andere ist äußerst schmerzhaft. Also entwickeln wir Strategien, damit so etwas in Zukunft nicht mehr passiert. Eine der Hauptstrategien ist es, uns bei der nächsten brisanten Situation genügend mutlos zu machen, damit wir gar nicht erst in die Falle tappen. Es ist also nicht übertrieben zu sagen, dass der innere Kritiker in seinem Ursprung ein gebranntes inneres Kind ist, das Schaden von uns abwenden will – um jeden Preis.
Jens F., ein erfolgreicher Projektmanager, hat viel Freude an seinem Job, bis auf eine Tätigkeit: Er muss in regelmäßigen Abständen sowohl sein Team als auch mögliche Interessenten und Investoren über den Stand seines Projektes auf dem Laufenden halten. Jedes Mal davor bricht ihm der Angstschweiß aus, eine Panik erfasst ihn, die mit dem Begriff Lampenfieber nur höchst unzureichend beschrieben ist.
Im Coaching wird klar, dass er solche Situationen schon in der Schule erlebt hat. Besonders eindrücklich war ihm eine Mathestunde in der 2. Klasse, als er an der Tafel eine Aufgabe lösen sollte und eine persönliche Katastrophe erlebte: Er hatte keinen blassen Schimmer und der Lehrer führte ihn mit hämischen Kommentaren vor. Die Klasse johlte. Beschämt schlich er mit hochrotem Kopf zurück an seinen Platz. Und sein gerade gebranntes inneres Kind schwor sich: Das passiert mir nie wieder!
Und sorgte fortan für wackelige Knie, einen trockenen Hals und Wortfindungsstörungen, nur damit er das Vorhaben, sich vor Menschen zu präsentieren, auf jeden Fall aufgibt. Erst als er diesen Zusammenhang aufdecken konnte, konnte er an den Panikattacken arbeiten und sie allmählich überwinden.
Es blockiert uns in ähnlich bedrohlich wirkenden Situationen von Anfang an. Die einzige Lösung, die ich dafür kenne, lautet: alte Verletzung aufdecken, das innere Kind „auf den Arm nehmen“ und das Ruder als erwachsener Mensch übernehmen.
Dafür müssen Sie wissen, wann der innere Kritiker aktiv wird.
Um mit dem inneren Kritiker umgehen zu können, müssen Sie sich erst einmal darüber bewusst werden, dass er jetzt DA ist. Woran erkennen Sie ihn?
1) Sie sagen verdächtig oft „ich muss“ oder „ich soll“.
2) Sie fühlen sich in immer wiederkehrenden Situationen klein und hilflos.
3) Sie glauben, dass Ihr Gegenüber eine schlechte Meinung von Ihnen hat und trauen sich nicht, zu fragen, ob Ihre Vermutung stimmt.
4) Sie können sich auch kleine Fehler nicht verzeihen.
5) Sie neigen dazu, die Dinge drastischer darzustellen als es angemessen wäre: „Das ist ja eine totale Katastrophe.“
Das müssen Sie nicht aushalten, Sie können konkret etwas dagegen tun
1) Sie müssen ihn bemerken.
Wann meldet er sich am meisten? Bei welchen Personen taucht er am meisten auf?
2) Geben Sie ihm einen Namen.
So wird er etwas greifbarer für Sie und Sie können ihn besser ansprechen.
3) Stellen Sie sich ihn plastisch vor: Wie sieht er aus, was für ein Gesicht macht er?
(Mein Kritiker guckt immer so griesgrämig und hat einen schwarzen hässlichen Mantel an.)
4) Fragen Sie sich weiter: Was für einen Beruf hätte er wohl, wenn er arbeiten ginge? Was für ein Tier wäre er wohl?
(Also mein Kritiker arbeitet beim Finanzamt – als Hyäne.)
5) Hören Sie ihm bewusst und aufmerksam zu.
Vermeiden Sie es dabei, sich in das Gefühl fallen zu lassen. Werden Sie Ihr eigener Erforscher.
6) Danken Sie ihm und nehmen ihn innerlich auf den Arm.
Sagen Sie ihm: “Ab jetzt übernehme ich das Ruder und du darfst dich ausruhen.”
7) Sagen Sie sich innerlich – wenn Sie alleine sind, auch mit lauter Stimme: „Ich bin ein erwachsener Mensch und das (…) verzeihe ich mir.“
Wenn Sie das konsequent ein paar Wochen machen, werden Sie ganz viele innere Kritiker bei anderen Menschen entdecken und können sich selbst gegenüber gnädiger werden. Denn damit wird klar: Das scheint eine weit verbreitete Krankheit zu sein. Die Erkenntnis, dass ich damit nicht alleine stehe, kann ganz schön entlastend wirken.
Für alle, die mehr darüber wissen möchten, gibt es ein wunderbares kleines Buch, eine humorvolle Abhandlung von Tom Diesbrock:
„Hermann! Vom klugen Umgang mit dem inneren Kritiker“, 2013 erschienen im Herder Verlag.
Acht Euro, die sich lohnen.
Wir können es an kleinen Kindern beobachten: wenn wir ihnen einen roten Punkt auf die Nase malen und sie dann vor einen Spiegel stellen, werden sie versuchen, dem Kind im Spiegel den roten Punkt von der Nase zu wischen. Entwicklungspsychologen schließen daraus, dass das Kind in dem Alter noch nicht unterscheidet zwischen sich und der Welt, es gibt noch kein ICH, es ist einfach. Später ändert sich das: Es gibt die Welt und es gibt mich. Und dann fangen wir an, die beiden in Beziehung zu setzen. Was halte ich von der Welt und was hält die Welt von mir?
Es ist also nicht so sehr unsere eigene Leistung, die für unser Selbstbewusstsein verantwortlich ist, sondern vielmehr die Reaktion unserer Umwelt auf diese Leistung.
In unserer modernen Welt gibt es relativ wenig Fälle von Größenwahn im Vergleich zu dem grassierenden Wahn, nicht wichtig zu sein.
Carol Pearson
Wenn Sie sich damit nicht abfinden wollen, können Sie das Folgende ganz konkret tun:
Kaufen Sie sich ein kleines Notizheft, das Sie immer bei sich haben. Wenn Sie von jemandem ein Kompliment über sich hören, schreiben Sie das in dieses Heft, zitieren Sie möglichst wörtlich. Auch wenn Ihnen selbst auffällt, dass Sie etwas gut gemacht haben, kommt das in dieses Heft.
„Was kann ich Deiner / Ihrer Meinung nach richtig gut?“ Auch das kommt ins Heft.
Vergleiche helfen niemandem, sie sind nur Futter für den inneren Kritiker. „Ich bin, wie jeder hier, einzigartig. Ich gehe meinen eigenen Weg.“
Wenn Sie öfter – im beruflichen Umfeld – angegriffen werden, legen Sie sich ein paar Entgegnungen zurecht, d. h. lernen Sie sie auswendig. Schlagfertigkeit ist die Kunst der vorher zurechtgelegten Antworten. Dann können Sie darauf zurückgreifen, wenn Sie sich angegriffen fühlen. Sollten Sie z. B. öfter rot werden und darauf von „mitfühlenden“ Zeitgenossen angesprochen werden, können Sie entgegnen: „Ja, ich weiß. Eine andere Farbe kann ich noch nicht.“
Machen Sie sich bewusst, dass Sie bestimmte Dinge/Tätigkeiten, an denen Sie im Moment scheitern, in anderen Zusammenhängen sehr gut hinbekommen.
Beispiel: Dem Mobbing von Anfang an begegnen
Astrid F. ist alleinerziehende Mutter und arbeitet halbtags in einer Gärtnerei als Verkäuferin. Der Umgangston dort ist ziemlich rau, und sehr oft hat sie den Eindruck, dass sie ihren eigenen Standpunkt nicht richtig vertreten kann. Sie fühlt sich bei der Arbeit sehr unwohl und im Coaching-Gespräch werden erste Anzeichen von Mobbing sichtbar.
Auf der Suche nach ihren Kraftquellen wird deutlich, dass sie zu Hause ein ganz klares Regiment führt. Ihre Kinder (ein sechsjähriger Junge und ein neunjähriges Mädchen), die sie sehr liebt, bekommen klare, nachvollziehbare Grenzen gesetzt. Da hat sie die Fähigkeiten, die ihr im Beruf fehlen: Eindeutige Ansagen und die nötige Portion Biss, sich auch zu behaupten. Ein gewisses Maß an Grundvertrauen gibt ihr den Mut, gegenüber ihren Kindern auch unliebsame Entscheidungen durchzusetzen, wie etwa Fernsehzeiten zu reglementieren. „Es ist ja nur zu ihrem Besten. Ich tue es nicht für mich, sondern damit es meine Kinder später leichter haben. Für sie bin ich bereit, auch mal eine Konfrontation einzugehen.“
Der eigentliche Grund für ihre Zurückhaltung bei der Arbeit, die fast schon zu Unterwürfigkeit gegenüber ihren Kollegen führt, ist die uneingestandene Furcht, ihre Stelle zu verlieren, wenn sie „aufmuckt“. Nachdem sie für sich geklärt hat, dass ihre Kollegen ihre Kraft brauchen, ihren Standpunkt und ihre Meinung, ist sie in der Lage, ihre guten Eigenschaften aus dem Bereich der Kindererziehung nach dem Motto „klare Kante setzen“ in den beruflichen Bereich zu transferieren. Sie vertritt deutlich, aber entspannt ihren Standpunkt und ist überrascht, auf wie wenig Gegenwehr sie trifft. Die Kollegen können mit ihrer neuen Art offensichtlich wesentlich besser umgehen. Die Mobbingangriffe hören auf.
Das Beispiel zeigt: Wir können viel mehr, als wir uns zutrauen. Und wenn wir uns dessen bewusst werden, können wir die Fähigkeiten ausbauen.
Das klingt einfach, ist aber anspruchsvoll. Es bedeutet, gut zu sich zu sein, sich Pausen und kleine Belohnungen zu gönnen. Und das Wichtigste an einem Freund: er verzeiht.
Nörgler und Miesepeter ziehen uns runter, lassen alles grau erscheinen. Positiv gestimmte Menschen suchen das Helle und bauen das aus. Das macht uns spürbar Mut, selber Dinge anzupacken.
Marc Aurel
Dieser Text wurde mir von einer Zuhörerin zugesandt. Er passt wunderbar zu diesem Thema:
Das merke ich mir
(zitiert mit freundlicher Genehmigung aus dem Buch von Frau Dr. Doris Wolf: “Übergewicht und seine seelischen Ursachen” , GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH)