Kleine Kinder würden diese Frage gar nicht verstehen. Veränderung bedeutet für sie immer auch und zuallererst Erweiterung ihres Aktionsradius: „Heute kann ich das erste Mal auf den Tisch schauen, jetzt bin ich das erste Mal der Mama weggelaufen, ich bin das erste Mal ohne Stützräder Fahrrad gefahren …“
Die Freude und Lust auf Veränderung ist riesengroß bei den Kurzen. Und bei uns? Wir Großen haben und „können“ doch schon alles, warum sollten wir uns verändern?
Übrigens ungeachtet der Hierarchiestufe, auf der sie sich befinden. Und klar ist auch: Wer etwas zu verlieren hat, bremst stärker.
Die Scheu vor Veränderung kenne ich auch. Wenn ich ein neues Office-Update bekomme, ist meine Lust, altvertraute Funktionen bei Word stundenlang neu zu suchen, sehr überschaubar … Was mir in dieser Situation fehlt, um offen und bereitwillig an die Veränderung heranzugehen, ist ein möglicher Gewinn. Das neue Office kann nur unwesentlich mehr als das alte – warum sollte ich also umlernen und Sachen neu „entdecken“, von denen ich vorher genau wusste, wo sie sind?
Meine Schlussfolgerung daraus: Veränderung und die damit verbundene Anstrengung (Umlernen/neu Lernen) muss für die Menschen, die ihr begegnen, einen Sinn ergeben, sonst blockieren sie den Wandel.
Dass haben z. B. viele Städteplaner inzwischen erkannt: Kein großes Bauprojekt mehr ohne intensive Bürgerbeteiligung. Das ist anstrengend, kostet Zeit und Geld, ist manchmal sicher nervig, hat aber einen entscheidenden Vorteil: Der Widerstand in der Bauphase ist deutlich geringer.
Beim Wohnungsbau wird es jedem einleuchten: Wir brauchen dringend mehr bezahlbare Wohnungen in den Ballungszentren, hier sind Veränderungen unbedingt geboten. Aber auf anderen Gebieten ist diese Einsicht schon deutlich geringer. Viele Menschen stellen sich insgeheim oft die Frage:
Veränderung ist, wie gesagt, ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens. Alles, was stillsteht, droht abzusterben. Wenn wir uns dem Wandel entgegenstellen, schaden wir uns. Hinzu kommt: Wir leben in revolutionären Zeiten, das machen wir uns nicht immer klar. Was gestern noch unumstößliche Gewissheit war, ist heute überholt. Radikale Umwälzungen gab es auch in der Vergangenheit, nur setzen sich technologische Neuerungen heute viel schneller durch.
Die technische Entwicklung des Elektromotors bis zur praktischen alltagstauglichen Anwendung dauerte ca. 50 Jahre. Dann dauerte es noch mal ungefähr 20 Jahre, bis der Elektromotor die marktbeherrschende Stellung der Dampfmaschinen gebrochen hatte. Also rund 70 Jahre für eine neue bahnbrechende Entwicklung. Das Smartphone gibt es jetzt seit 2007 und es hat sich innerhalb kürzester Zeit durchgesetzt. Auch das Internet wird noch viele Umbrüche erzwingen. KI, 3-D-Drucker, autonomes Fahren – die Liste der systemverändernden Erfindungen, die radikale Veränderungen mit sich bringen, wird immer länger. Und dass China zum Wachstumstreiber für Solarzellen und E-Mobilität wird, hätte vor kurzem auch noch niemand für möglich gehalten. Also, alles ändert sich – ständig. Und das Tempo wird immer schneller.
Wenn wir also prinzipiell die Notwendigkeit, sich dem Wandel zu stellen, erkannt und akzeptiert haben, bleibt diese große Frage:
Um die Frage besser beantworten zu können, möchte ich noch mal das Bild von Jonathan Haidt benutzen (vielleicht kennen Sie es bereits, siehe auch meinen Beitrag zum Thema “Ziele erreichen”): Er vergleicht den Verstand und die (unbewusste) Emotion mit einem Reiter, der auf einem Elefanten sitzt. Der Reiter repräsentiert den rationalen Teil in uns. Er kann analysieren, vorausplanen und strategisch denken, sieht also in unserem Fall klar die Notwendigkeit, sich zu ändern, während der Elefant für den emotionalen, triebgesteuerten Teil in uns steht, der Schmerzen vermeiden und Freude maximieren will, der also in Zeiten der Veränderung eher in den Widerstand geht.
Der Widerstand wird sich häufig als rationales Argument verkleiden, denn unser Elefant ist sehr erfinderisch, wenn es um das Vertuschen der grundlegenden Motivation geht. Der Unterschied zwischen sachlich begründet oder vorgeschoben ist einfach zu erkennen:
Eine vorgeschobene Begründung wechselt bei Widerspruch die Form, Farbe und Gestalt. Sie hüpft von einem Bereich zum nächsten und zieht immer neue „Weil‘s“ aus dem Köcher. Da können wir sicher sein: Diese Begründung ist nicht der wahre Grund für die Verweigerung. Vorgeschobene Begründungen haben vielfältige Ursachen. Es ist hilfreich zu differenzieren, mit welcher wir es gerade zu tun haben.
„Ich kann das nicht“, „Ich lern das nicht mehr“, „Ich verliere meine Kompetenz und damit meinen guten Ruf“, „Ich blamiere mich doch nicht vor allen Leuten!“.
Das wird der Elefant sich zwar nur selten (und anderen schon gar nicht) eingestehen, aber genau das ist oft die Triebfeder für eine Blockadehaltung. Kommt Ihnen bekannt vor? Wir alle haben damit schon zu tun gehabt – ohne Ausnahme. Eines ist hier wichtig: Nicht zu verurteilen. Wenn wir den Anderen (oder uns selbst) dafür herunter machen, werden die Angst-Anteile sich abqualifiziert fühlen und „abtauchen“, d. h. sie sind für eine Kontaktaufnahme nicht mehr erreichbar – aber handlungsmächtig bleiben sie trotzdem.
Wirklich zuhören statt überzeugen wollen, nachfragen, zusammenfassen und zurückgeben: „Habe ich Sie richtig verstanden, dass …“ Sollten wir den Kern der Botschaft erfasst haben, tritt meist sichtlich Entspannung ein – das Gegenüber spürt: es muss jetzt nichts mehr verteidigt werden. Und dann hilft mir oft der Zaubersatz: „Mir ist … (die Veränderung) sehr wichtig – was brauchen Sie, um Ja sagen zu können?“
Das ist natürlich keine Garantie dafür, dass Ihr Gegenüber die Veränderung wirklich mitträgt, doch die Chancen steigen deutlich, weil Sie den Anderen in Bewegung bringen. Probieren Sie es aus!
„Was bildet der sich ein?“, „Wer macht denn hier die ganze Arbeit?“, „Der ist hier nicht der Bestimmer“, „Ich mach, was ich will“. Kennt auch jeder von uns, oder? Auch hier ist Einfühlung wichtig, denn:
Hier ist es jedoch, im Gegensatz zum Thema Angst, notwendig, neben empathischem Fragen eine klare Position zu beziehen, Grenzen zu setzen und deutlich zu kommunizieren, was geht und was nicht.
„Die Demokratie darf nicht so weit gehen, dass in der Familie darüber abgestimmt wird, wer der Vater ist.“
Willy Brandt
Ich war, ich gebe es zu, als Schauspieler nicht immer einfach für die Regisseure, mit denen ich gearbeitet habe. Offiziell war ich weisungsgebunden, hatte also den Regieanweisungen Folge zu leisten. Tatsächlich habe ich vieles in Frage gestellt, habe oft widersprochen. Die Regisseure, die mir entspannt aber klar ihre Machtposition deutlich machen konnten, hatten es anschließend leichter mit mir. „Lutz, ich werde dafür bezahlt, das zu entscheiden.“ Es war nicht angenehm, das zu hören, aber es hat den Prozess und mich entspannt.
„Der hat mir schon mal weh getan, jetzt zahle ich es ihm heim, egal wie gut seine Idee ist.“
Hier ist eine offene, beherzte Aussprache angesagt, bei der Sie vor allem auf die Körpersprache Ihres Gegenübers achten sollten. Die zeigt Ihnen schnell, wann Sie „einen Treffer“ gelandet haben. Und wenn Sie schon mal dabei sind, sorgen Sie dafür, dass Sie „komplett“ werden, sprechen Sie respektvoll alles an, was weh tut, lassen Sie nichts aus. Holen Sie die Leichen aus dem Keller und sorgen Sie dafür, dass diese angemessen bestattet werden. Oft werden diese Leichen, also alte Verletzungen, Zurückweisungen und Respektlosigkeiten, sorgfältig aufbewahrt für spätere Gefechte und sorgen für eine permanent toxische Atmosphäre. Eventuell ist auch eine Entschuldigung für eigene Versäumnisse und Fehler angebracht. Danach sollten Sie die Loyalitätsfrage stellen: „Auf wessen Seite stehen Sie?“
Auch hier gilt: Es gibt keine Garantie für den Erfolg, aber Sie vergrößern Ihre Chancen immens.
Beim Change-Management spielt zwar der Widerstand eine Hauptrolle, aber er ist nicht allein entscheidend. Im Wandlungsprozess wird die Akzeptanz Veränderungen gegenüber auch immer wieder durch zwei Kardinalfehler von Führungskräften gefährdet:
und
Interessanterweise treten beide Fehler häufig nacheinander auf.
Der Projektmanager Edgar P. scheut sich, in den Konferenzen seiner Arbeitsgruppe klare Ansagen zu machen. „Ich habe das permanente Gefühl, ich müsse die Kollegen überreden, die anstehende Mehrarbeit zu übernehmen. Ich bin nicht weisungsbefugt und habe Sorge, dass ich ein Nein bekomme. Also bequatsche ich sie – mit mäßigem Erfolg. Manchmal, wenn mir dann alles zu viel wird, gehen mir die Klagen und Sonderwünsche gehörig auf den Zeiger. Dann gibt es Krach und hinterher viele Beleidigte. Dann darf ich mich auch noch entschuldigen. Ändern tut sich nichts.“
Hier ist von vornherein der Mut zur eigenen Position gefragt. Der Leiter der Arbeitsgruppe legt die Spielregeln fest, nach denen die Gruppe arbeiten wird und bestimmt damit wesentlich über Erfolg und Misserfolg der gesamten Mission. Wer aus falscher Rücksicht für ein vermeintlich gutes Klima Konflikten aus dem Weg geht, wird im Nachgang, wenn seine Geduld erschöpft ist, oft überzogen agieren – und damit den Widerstand erst recht provozieren.
Veränderungen sind immer auch eine Chance auf persönliches Wachstum. Wir werden uns im Rahmen von Wandlungsprozessen unweigerlich neuen Situationen, neuen Methoden und Sachverhalten stellen müssen. Und bereit sein müssen, zu lernen und umzulernen. Aber wie geht das überhaupt? Das lässt sich gut anhand des Drei-Zonen-Modells erklären:
Die Wohlfühlzone (Komfortzone) ist der innerste Bereich, in dem wir uns sicher fühlen.
Hier können wir uns ausruhen, die Wunden lecken und uns unseres Selbst vergewissern, aber eines können wir hier nicht: Wachsen.
Die Wachstumszone ist der Bereich, der sich anschließt. Hier kennen wir uns nicht (so gut) aus, hier fühlen wir uns unsicher, hier machen wir garantiert Fehler.
Danach kommt die Panikzone. Sie ist der Bereich, der zu weit von unserem angestammten Bereich entfernt ist.
Je öfter ich mich in die Wachstumszone begebe, umso sicherer fühle ich mich dort. Im besten Fall kann meine Wohlfühlzone größer werden und die alte Panikzone sich in eine neue Wachstumszone verwandeln.
Wichtig: Ich vermeide Fehler in der Wohlfühlzone, die nur aus Nachlässigkeit entstehen. Ich akzeptiere Fehler und damit das Unbehagen in der Wachstumszone, weil mir der Gewinn einer neuen Fähigkeit das wert ist. Wenn ich mit Fehlern generell nicht umgehen kann, mein Ego keine Fehler verzeiht oder ich zu stolz bin, auch mal doof auszusehen, schaffe ich mir eine Wachstumsbremse. Ich kann dann nicht wachsen!
Beispiel: Stottern hilft lernen
Wenn Sie eine Fremdsprache lernen, z. B. Spanisch, werden Sie am Anfang die Wörter falsch aussprechen, sie falsch betonen, die grammatikalischen Regeln verletzen usw. Wenn Sie nicht wollen, dass andere Menschen Ihre Fehler mitbekommen, wenn es Ihnen peinlich ist, dann werden Sie nur im stillen Kämmerlein für sich Spanisch sprechen, oder im Unterricht. Ein Mensch, der keine Scheu hat, sich dabei zu blamieren, wird fleißig Sprachpraxis sammeln und viel schneller Spanisch gut sprechen.
In welchem Bereich Ihres Lebens wäre Ihnen der Lernzuwachs ein gewisses Unbehagen wert? Und bedenken Sie: je öfter Sie sich in die Wachstumszone begeben, umso sicherer werden Sie sich dort fühlen. Wenn Sie dranbleiben, kann aus Ihrer Wachstumszone ein neues Stück Wohlfühlzone werden – Wachstum im besten Sinne.
Mein Vorschlag lautet: Lösen Sie sich aus freiem Entschluss (!) von der Strenge des Satzes „Ich darf mir keinen Fehler erlauben“ und erlauben Sie sich die Einstellung: „Mehr als schiefgehen kann es nicht“.
Wenn ich als Chirurg jemanden am offenen Herzen operieren muss, dann wünsche ich mir diese Haltung sehr. Ein Chirurg sollte sorgfältig vorgehen und tunlichst darauf bedacht sein, keinen Fehler zu machen, speziell keinen, der den Patienten das Leben kosten könnte. Also in allen lebensbedrohlichen Situationen ist Safety nicht nur first, sondern „first first“. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch: Wenn die ersten Chirurgen, die sich an Herz-OPs gewagt haben, nicht bereit gewesen wären, ein gewisses Risiko einzugehen, gäbe es bis heute keine Herz-OPs.
Die meisten von uns haben mit lebensbedrohlichen Aktionen (zum Glück) wenig bis gar nichts zu tun. Wir operieren nicht am offenen Herzen, wir leiten keine Nordpol-Expedition. Was hält uns also davon ab, von der unerbittlichen Strenge dieser Haltung abzurücken? Meist ist es die Sorge, bei den Mitmenschen (und noch viel mehr bei uns selbst) „durchzufallen“, sich zu blamieren und peinlich zu wirken. Das ist fatal! In jedem neuen Bereich, in dem Sie sich noch nicht auskennen, machen Sie unweigerlich Fehler. Verbieten Sie sich die, können Sie sich im Neuland nicht aufhalten und nichts Neues lernen. Zum Glück haben wir, als wir klein waren, davon noch nichts gewusst. Sonst hätten wir weder laufen noch sprechen gelernt.
Diese Haltung wünsche ich mir öfter bei uns. Sie ist unangebracht in Sicherheitsbereichen, aber ansonsten sehr nützlich! Perfektionismus, so wie ich ihn verstehe, beschreibt ja nicht etwas Tolles oder gar Großartiges, sondern nur die Abwesenheit von Fehlern. Wenn ich besser werden will, brauche ich die innere Erlaubnis, in einem Bereich, in dem ich mich noch nicht auskenne, Fehler zu machen. Nur dann kann ich dort wachsen, d. h. sicherer werden. Für mich ist es der Weg vom Perfektionismus hin zu Brillanz, vom einengenden Festhalten hin zur größtmöglichen Entfaltung. Es ist die ultimative Erlaubnis für Durchbrüche.
„Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber so viel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“
Georg Christoph Lichtenberg